9punkt - Die Debattenrundschau
Es gibt ein Umdenken
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Bereits vergangene Woche hat Erdogan Partei für die Hamas ergriffen und sie eine Befreiungsbewegung der Palästinenser genannt, Israel bezeichnete er als "Kriegsverbrecher". Für die insgesamt noch knapp 20.000 Juden in der Türkei brechen wieder schwere Zeiten an, kommentiert Jürgen Gottschlich, der in der taz die Geschichte der Juden in der Türkei skizziert: "Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch weit über 100.000 Juden im Osmanischen Reich, selbst zu Beginn der türkischen Republik vor 100 Jahren waren es noch rund 80.000 Gemeindemitglieder. In der Türkei waren sie vor der Verfolgung durch die Nazis geschützt; das Land, das im Zweiten Weltkrieg neutral war, wollte aber auch keine größeren Gruppen jüdischer Flüchtlinge aus Europa aufnehmen. 1948 gehörte die Türkei dann zu den ersten Ländern, die Israel diplomatisch anerkannten. Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts blieb das Verhältnis zwischen der Türkei und Israel eng. Die beiden Länder arbeiteten militärisch zusammen, israelische Touristen kamen in Scharen in die Türkei. Das änderte sich erst, als 2002/03 die islamische AKP an die Macht kam und Erdoğan Ministerpräsident wurde."
Wie kann Deutschland weiterhin Beziehungen zu einem Staat unterhalten, dessen Staatschef, Erdogan, Israel zuruft es sei selber "'eine Organisation'" und die Hamas für ihre Taten lobt, fragt sich Deniz Yücel entsetzt in der Welt. Dabei betone Erdogan immerzu, dass die Türkei Israel nichts schulde. "Doch 'makellos' ist auch die türkische Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht: das Pogrom 1934 in Ostthrazien, dem europäischen Teil der Türkei, die 1942 erlassene Vermögenssteuer für nicht-muslimische Minderheiten, die zur massenhaften Verfolgung und Enteignung von Armeniern, Griechen und Juden führte, die ambivalente Rolle der Türkei im Holocaust mit der Tragödie um das Flüchtlingsschiff 'Struma' als Tiefpunkt, das Pogrom vom September 1955, das erwiesenermaßen von der Mitte-Rechts-Regierung von Adnan Menderes gesteuert wurde, auf den sich Erdogan heute beruft, die Anschläge des türkischen Al-Qaida Ablegers auf zwei Istanbuler Synagogen im November 2003 - all das hat dazu beigetragen, dass Schätzungen zufolge nur noch 14.500 Juden in der Türkei leben, die allermeisten davon in Istanbul, einige in Izmir. Vor zehn Jahren waren es fast doppelt so viele, 1948 zehnmal so viele."
Buch in der Debatte
Die Feierlichkeiten kommen einem nicht wie ein Fest vor, "sondern als harre man am Krankenbett der Republik aus", konstatiert Can Dündar, der gerade ein Buch über 100 Jahre türkische Republik geschrieben hat, auf Zeit online. Dabei geht er vor allem der Frage nach, wie die Republik in eine Autokratie unter Erdogan umschlagen konnte. "Dafür gibt es zahlreiche Gründe, die lange vor der Herrschaft Erdoğans angelegt waren: Die von oben - von Atatürk - befohlenen Reformen konnten nicht durch eine wirtschaftliche Transformation des Landes unterstützt werden; sie erreichten nicht im selben Tempo die Stadtbevölkerungen und die Provinz; die erzwungene Umsetzung der Reformen löste soziale Traumata aus; die Kampagne zur Türkisierung einer islamischen Gesellschaft führte zu Aufständen; die auf Atatürk folgenden Regierungen weichten die Reformen auf. Das nach dem Zweiten Weltkrieg in der Türkei eingeführte demokratische Mehrparteienregime erlebte fünfzig Jahre lang ein Kräftemessen zwischen dem laizistischen Militär (in der Rolle des Hüters der Republik) und konservativ-islamistischen Parteien. Erdoğan kam an die Macht, weil die in diesem Konflikt aufgeriebene Politik der Mitte und zugleich die geschwächte Wirtschaft zusammenbrachen. Die Massen setzten auf einen neuen Namen."
An eine baldige Versöhnung der polnischen Gesellschaft glaubt der Schriftsteller Stefan Chwin im FAZ-Gespräch nicht: "Mir würde es schon genügen, wenn der Grad der gegenseitigen Aggression sinkt. Das ist vielleicht minimalistisch, aber realistisch. Dabei wird ein wichtiger Faktor sein, wie die öffentlich-rechtlichen Medien umgestaltet werden. Die Bürgerplattform sollte den Sender TVP nicht wieder zu einem Regierungsfunk machen, nur für die andere Seite. Das Gift, das in der TVP gegen die Opposition versprüht wurde, hat paradoxerweise zur Wahlschlappe der PiS beigetragen. Aber man sollte dem bisherigen Regierungslager jetzt nicht den Mund verbieten. Übrigens hat Tusk sich im Wahlkampf nicht in eine Rhetorik der Revanche hineinziehen lassen. Er hat, im Gegensatz zur PiS, nicht ausgrenzend, sondern eher inklusiv gesprochen. Es war wie damals, unter der Diktatur, wenn die Regimegegner auf Demonstrationen an die Adresse der passiven Passanten skandiert haben: 'Kommt mit uns!' Und die Polen haben jetzt gezeigt, dass sie das Ausgrenzen satthaben."
Politik
Seit knapp zwanzig Jahren versucht der israelische Kolumnist Gershon Baskin zwischen Israel und der Hamas-Führung zu vermitteln, er bekam damals den Soldaten Gilad Shalit frei. Im großen Zeit-Online-Interview spricht er über die Radikalisierung der Hamas, die inzwischen vor allem Kinder von Hinterbliebenen anwirbt. Außerdem warnt er vor einer israelischen Bodenoffensive, um die Möglichkeit von Verhandlungen aufrecht zu halten: "Die Macht, welche die Familien der Geiseln über die israelische öffentliche Meinung haben, wächst. Nicht, weil sie sich an andere Staatschefs gewandt haben. Sondern weil der Staat dafür verantwortlich ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Darin hat Israel versagt. Die israelische Regierung hat eine moralische Verantwortung, die Geiseln zurückzubringen. Am 7. Oktober wurde die größte Anzahl an Juden seit dem Holocaust getötet. Dieser Tag ist das traumatischste Ereignis in der Geschichte Israels. Deswegen ist es Priorität der Regierung und der Armee, die Hamas zu zerschlagen. Auch für die meisten Israelis hatte dies bis jetzt oberste Priorität. Die Geiseln stehen dicht dran, aber erst an zweiter Stelle. Doch es gibt ein Umdenken. Dass die Bodenoffensive sich so lange verzögert hat, ist auch ein Ausdruck davon."
Im Welt-Interview erklärt der amerikanische Philosoph Michael Walzer, was Israel nach geltendem Kriegsvölkerrecht darf - zum Beispiel eine Moschee attackieren, in der Raketen lagern - und was nicht: "Die Belagerung des Gazastreifens - die Unterbrechung der Versorgung mit Treibstoff, mit Elektrizität, mit Hilfsgütern - ist etwas, was Israel nicht darf. Es ist eine seltsame Situation, denn in der Geschichte von Belagerungen hat noch nie jemand vorgeschlagen, dass die belagernde Armee den Feind versorgen muss. Das ist eine erstaunliche Geschichte, die viele nicht verstehen: Die Hamas beißt die Hand, die sie füttert, oder genauer gesagt, die ihre Bevölkerung füttert. Wegen der Besatzung von 1967 und dem Rückzug von 2005 war Israel verantwortlich für das Wohlbefinden der Bevölkerung des Gazastreifens. Es ist eine natürliche Reaktion, wenn Israel jetzt sagt: Wir tun das nach dem 7. Oktober nicht mehr. Aber ich glaube nicht, dass es gerechtfertigt ist."
Im Libanon verliert die regierende Hisbollah zwar immer weiter an Zustimmung. Trotzdem stellt sie aktuell ein akutes Risiko für Israel dar, erklärt die Journalistin Hanin Ghaddar im Interview mit Stella Männer auf Zeit online. Dabei verhält sich der der Generalsekretär der Hisbollah, Nasrallah, abwartend. "Hassan Nasrallah hat oft gesagt, dass er ein Soldat in der Armee der Wilayat al Faqih sei - so wird das Regierungssystem des Irans bezeichnet. Er sagt außerdem oft, dass seine Partei nichts ohne den Iran wäre. Das ist einer der wenigen Punkte, in dem ich ihm glaube. Bei allen innenpolitischen Fragen, ob es um Wahlen oder politische Bündnisse geht, lässt der Iran Nasrallah entscheiden. Wenn es um Krieg oder Frieden geht, haben aber die Iraner das Sagen. Deshalb hat sich Nasrallah auch bislang nicht öffentlich zum Krieg zwischen der Hamas und Israel geäußert. Er weiß vermutlich nicht, was er sagen soll, weil der Iran noch keine Entscheidung getroffen hat."
Gesellschaft
In der SZ glaubt Philipp Bovermann, dass die Idee des Postkolonialismus am Ende ist. "Das postkoloniale Denken gab den entwurzelten Völkern, die der Kolonialismus zurückließ, Vertrauen in sich selbst zurück. Es befreite auch den Westen von einigen seiner Vorurteile, lehrte ihn Demut." Daraus gingen aber postkoloniale Denker hervor, die "geradezu vernarrt in andere Formen des Wissens, in Rituale und Spiritualität" sind und einen Fakten-Konsens ablehnen. "Die rationalistischen Traditionen fremder Völker sind da weniger interessant, vielleicht aus Angst, wieder nur sich selbst im anderen zu erkennen. Rationalismus ist angeblich westliche Anmaßung. So kehrt der Orientalismus über die Hintertür zurück. Echte universelle Maßstäbe existieren gemäß dieser Logik nicht. Und wenn doch, dann sind das vermeintlich maskierte Manöver einer Macht, die versucht, Kontrolle über die Welt zu erlangen, indem sie die Standards und Spielregeln setzt - so wie es der Westen getan hat und immer noch tut, ohne sich selbst an diese Regeln zu halten. Übrig bleibt, wenn die universellen Vermittlungskategorien abgeräumt sind, Binarität: der Westen gegen den globalen Süden, Privilegierte gegen Unterdrücker, Siedler gegen Kolonisierte. Dazwischen: ein militärisch befestigter Zaun."